Ich und Du und Dehnens Kuh
(Dieter Lesemann)
Der Großeickenhof war einer der größten Höfe in Meiderich. Er lag auf der westlichen Seite der Emmericher Straße, etwa in dem heutigen Straßenkarree Westender Straße – Emmericher Straße – Neumühler Straße und Bahnhofstraße.
Der Name Eickenstraße, die zwischen der Walzstraße und der Emilstraße verläuft, erinnert noch daran.
Im Jahre 1442 gelangte die ‚Herrschaft Meiderich’ wieder in den Besitz der Familie von Stecke, die den Großeickenhof auch als Lehen hatte. Teile des Wappens dieser Familie findet man auch unten rechts auf dem Meidericher Wappen.
Mit zunehmender Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde immer mehr landwirtschaftlich genutztes Gelände an Industrielle verkauft. So erging es auch dem Großeickenhof, der große Teile seines Gebietes bis 1856 an die Betreiber des Schachtes Westende verkauft hatte.
Im Jahre 1908 wurde der Zentralviehhof Groß-Duisburg und der Schlachthof Meiderich auf einem Teil des Geländes des Schachtes Westende zwischen Eicken-, Bronkhorst- und Emmericher Straße errichtet. Seit 2011 existiert der Schlachthof nicht mehr.
An die Zeit des Kohleabbaus in diesem Bereich erinnert heute noch der Malakow-Förderturm direkt an der Mauer zur Eickenstraße.
Malakow-Türme sind Fördertürme aus sehr dickem, festungsähnlichem Mauerwerk. Der Name geht auf das Fort Malakow, einen Teil der russischen Festungsanlage vor Sewastopol während des Krimkrieges 1853 bis 1856, zurück.
Nun aber vor in die 1960er Jahre und zurück zu Dehnens Kuh, so will ich unser Tier einmal nennen.
Es scheint eine böse Ironie der Geschichte gewesen zu sein, dass dort, wo bis Mitte des 19. Jahrhunderts Kühe friedlich auf der Weide des Großeickenhofes grasten, etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später ein Schlachthof errichtet wurde.
Dass der Aufenthalt einer Kuh in einem Schlachthof für das Tier meist kein gutes Ende bedeutet, war auch Dehnens Kuh irgendwie klar. Schon seit Tagen und Nächten zerbrach sie sich den Kopf – bevor es der Kopfschlächter später tun würde – wie sie ihrem Schicksal entrinnen könnte.
Ein offen stehendes Tor nahm unserer Kuh jegliches Nachdenken ab. Jetzt oder nie! Sie nahm die Beine – immerhin vier – in die Hand, rannte über das Schlachthofgelände, bog nach links in die Bronkhorststraße ab, hetze nach links über Eicken – und Walzstraße, querte die Bahnhofstraße, galoppierte über die Herkenbergerstraße und verschnaufte erstmals unter dem Tunnel am Meidericher Bahnhof. Just in diesem Moment donnerte eine schwere Dampflok der Baureihe 01 mit lautem Schnaufen und Pfeifen über die Gleise oberhalb des Tunnels.
Jäh fuhr der Schreck in die bereits geschwächten Glieder der Kuh und trieb sie Richtung Friedrichsplatz, direkt auf die Metzgerei Merkel zu.
Jetzt kommst du vom Regen in die Traufe, dachte die Kuh und blieb kurz stehen.
Inzwischen hatte die Schlachthof-Leitung längst Polizei und Feuerwehr alarmiert, die sich zusammen mit sachkundigen Bürgern – die meisten waren sachkundig in Neugierde – auf die Verfolgung der Kuh machten, um sie zu stellen und, wenn nötig, sofort zur Strecke zu bringen. Die Polizisten waren natürlich bewaffnet. Ein Metzger mit einem langen Messer sollte sich bereit halten.
Als die Kuh mitten auf dem mit roter Asche befestigten Friedrichsplatz stand und immer mehr Zweibeiner sich ihrem Dunstkreis bedrohlich näherten, schien nur noch die Flucht nach vorn zu helfen.
Das Tier schoss mit einer Geschwindigkeit, die die zweibeinigen Beobachter in Erstaunen versetzte, los in Richtung Von-der-Mark-Straße. In Höhe der Wittkampstraße hatten sich aber bereits Polizeiketten formiert, die nicht den Eindruck machten, als wollten sie irgendjemandem Durchlass gewähren.
Im Kuhgalopp ging’s vorbei am Meidericher Bahnhofshotel und dem staunenden Ehepaar Jupp und Luise Schliffka, das sich auf der Treppe, die in ihren Schuhladen führte, eingefunden hatte. Dann verschwand das Tier auf den Lagerplatz des Bauunternehmens Hermann Dehnen, der sich zwischen Bahnhofshotel und Wittkampstraße befand.
Hunderte Meidericher standen auf den Straßen und lagen in den Fenstern der angrenzenden Häuser und sahen, wie Feuerwehrbeamte langsam das Tor zum Dehnen’schen Lagerplatz schlossen.
Das Ende der Kuh schien nahe. Durch ein kleines Seitentor zwängten sich Polizisten mit vorgehaltenen Waffen und der nämliche Metzger mit dem langen Messer auf den Lagerhof und standen dem Tier Aug in Aug gegenüber. Das Entsichern einer Pistole ließ die Kuh wieder aktiv werden, und sie verschwand hinter einem hohen Stapel von Gerüstbrettern. Das schien des Metzgers Augenblick zu sein. Er schlich von hinten an die Kuh heran, holte weit aus, und das scharfe, lange Messer sauste in … eines der Gerüstbretter, wo es dann so feststeckte, dass der Metzger es nicht mehr los brachte.
Im Kugelhagel gelang es der Kuh einen neuen Schutz hinter Zementsäcken und einem Sandhaufen zu erreichen. Stark geschwächt und offenbar doch getroffen legte sie sich jedoch ab und rührte sich nicht mehr.
Der Metzger, der dem Gerüstbrett das Messer schließlich doch hatte entreißen können, sah seine zweite Chance, der Kuh den Todesstoß zu versetzen.
Just in diesem Augenblick erhob sich diese mit der Energie der Todesangst doch noch einmal, entwich dem Metzger ein zweites Mal, nahm noch einen Polizeianwärter auf die Hörner, um dann zu Füßen einer Betonmischmaschine sein Leben auszuhauchen.
Ob es zwischen diesem Ereignis und der schwarzen Tafel mit der Aufschrift „Heute frische Rinderleber“, die am nächsten Tag vor Metzger Merkels Laden stand, einen Zusammenhang gab, wurde nicht bekannt.